Karlsruher Forscher kooperieren mit Berliner Projekt im Kampf gegen Kriegsverbrechen

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Karlsruhe/Berlin – Kriege hinterlassen Spuren – heutzutage auch auf zahllosen Fotos und Videos. Millionen von Smartphone-Kameras halten Zerstörung, Sterben, Tod und Verzweiflung fast überall auf der Welt fest – und speichern sie auf Chipkarten oder im Netz. Das „Syrian Archive“, 2014 in Berlin gegründet, sammelt zum Beispiel solche Bilder, die über Kanäle und soziale Netzwerke wie Youtube auflaufen. Es sind aber nicht nur emotionale Dokumente des Grauens, die da festgehalten werden. Letztlich können diese Bilder auch Beweismaterial liefern: Für Terror und Kriegsverbrechen.

Von Dieter Giese

Vor allem Youtube ist für sie eine Quelle. Wenn auch eine sehr flüchtige: Weil das Netzwerk angehalten ist, extremistisches Material zu löschen, fallen auch solche „Gewaltvideos“ dem Löschprogramm zum Opfer. Es ist für die Archivare deshalb ein Wettlauf gegen die Zeit, das Material zu sichern. Trotzdem hat das Syrian Archive bis Mitte des Jahres schon mehr als 1,5 Millionen Videos gesammelt.

Die Fülle des Materials ist allerdings gleichzeitig das Problem: Wie kann man finden, was man sucht, in dieser Menge von bewegten Bildern? Die Herausforderung besteht darin, Hunderttausende Videos zu sichten. Die Arbeit ist zeitaufwendig und das Bildmaterial zeigt oft grausame Inhalte, die sekundäre Traumata auslösen können.

Der US-Künstler und Programmierer Adam Harvey in Berlin hatte eine Idee und einen Plan: VFRAME. Das Wort steht für „Visual Forensics and Metadata Extraction“ und ist ein „Open-Source Künstliche-Intelligenz-System“ zur Erkennung illegaler Munition in Kriegsgebieten. Unfachmännisch ausgedrückt: Es geht darum, Algorithmen für ein Programm zu entwickeln, das auf Fotos und Videos zum Beispiel illegale Streumunition beziehungsweise -munitionsteile automatisch erkennen kann. Was sich einfach anhört, ist eine höchst komplexe Angelegenheit.

Aus diesem Grund hat Harvey nach technischem Support Ausschau gehalten – und ihn unter anderem in Karlsruhe an der Hochschule für Gestaltung (HfG) gefunden. Dort wurde die Forschungsgruppe Künstliche Intelligenz und Medienphilosophie (KIM) unter der Leitung des Medienphilosophen Professor Matteo Pasquinelli ins Leben gerufen.

Seit wenigen Monaten kooperiert sie mit Harvey und VFRAME. Die von Harvey geschaffene App zur Auswertung des Film und Fotomaterials sei schon jetzt in der Lage, in sekundenschnelle „einen Zusammenschnitt verdächtiger Funde“ zu liefern, heißt es. Etwa 51 Mal schneller als Menschen sei das Programm, sagte Adam Harvey in einem Interview mit „ntv“, wenn es darum geht, aus den Bildern Verdächtiges zu identifizieren. 

Ein erster Baustein aus Karlsruhe

„Verdächtig“ seien „vor allem nach internationalen Übereinkommen geächtete Kriegsmittel – Waffen und Munition, zum Beispiel bestimmte Giftgaszylinder“. Schon Mitte Mai meldete Harvey, dass der Algorithmus 18 Waffentypen erkennen könne, „selbst dann, wenn sie nur verdreckt oder beschädigt zu sehen sind“. Nun geht es darum, das Programm „aufzurüsten“.

Und dabei kommt die Forschungsgruppe KIM ins Spiel, wie Ariana Dongus sagt, die als wissenschaftliche Mitarbeiterin und Doktorandin an der HfG das Projekt zusammen mit Professor Pasquinelli und etwa 25 HfG-Studenten und Mitarbeitern vorantreibt. Im weitesten Sinne geht es um Objekt-Erkennung (Object Recognition) – und dazu hat die Forschungsgruppe KIM einen ersten Baustein geliefert: Ein 3D-Modell der illegalen Streumunition AO-2.5RT, einst hergestellt in der Sowjetunion und heute im Syrienkrieg im Einsatz, wurde erstellt, das jetzt Harveys VFRAME-Programm erweitert und nach Kriegsverbrechen in den Videos des Syrian Archive suchen kann.

In der Tat ist es ein kleiner und ebenso mühsamer wie teurer Schritt, wenn man bedenkt, dass eine Vielzahl von Typen illegaler Munition im Bürgerkrieg zum Einsatz kommt. Am Ende soll VFRAME all diese Waffen und ihre Munition auf den Fotos aufspüren können – für den Bürgerkrieg in Syrien, aber auch für alle anderen Konflikte auf der Welt.

Das VFRAME-Projekt zeige den zivilen Nutzen von künstlicher Intelligenz und wie sie für Frieden und Gerechtigkeit, statt Zerstörung und blinder Automatisierung, genutzt werden kann, heißt es dazu in der Pressemitteilung der HfG zu diesem Kooperationsprojekt. „Da die Staatliche Hochschule für Gestaltung Karlsruhe ihren Sitz in einer ehemaligen Munitionsfabrik hat, haben 3D-Modelle von Munition, die nicht zum Töten, sondern zum Retten von Menschenleben verwendet werden, einen wichtigen symbolischen Wert.“

Aber die Kooperation, an der auch Wissenschaftler des Karlsruher Instituts für Technologie (KIT) beteiligt sind, steht erst ganz am Anfang, wie Ariana Dongus sagt. „Wenn es etwa 100 illegale Waffen- und Munitionsarten geben würde, dann können wir mittlerweile drei aus den Bildern herauslesen“, sagt Dongus. Das Bundesministerium für Bildung und Forschung fördert VFRAME, aber die Weiterentwicklung wird reichlich Mittel in Anspruch nehmen – und vermutlich mehr, als die öffentliche Hand bereit ist, zur Verfügung zu stellen. Mit den ersten Erfolgen wiederum wollen die Karlsruher Forscher dazu beitragen, mehr Mittel zu generieren.

Dass sich die Beweissuche mittels Videos und Rechnerleistung durchaus lohnen kann, das zeigen jüngste Erfahrungen: So hat der Internationale Strafgerichtshof allein auf Grundlage von Internet-Videos Haftbefehl gegen den libyschen Offizier Mustafa al-Werfalli erlassen, wie Deutschlandradio berichtet. Aufnahmen aus Bengasi sollen ihn bei der Erschießung gefesselter Menschen zeigen.

Auch Amnesty International beschäftigt mittlerweile einen „Digital Verification Corps“. Und zu den Pionieren auf diesem Gebiet gehört auch das Recherchenetzwerk Bellingcat um den britischen Investigativjournalisten Elliot Higgins. All diesen Dokumentaren des Grauens könnte aber das technische Know-how, das in Berlin und Karlsruhe entwickelt wird, zu einer noch größeren Schlagkraft verhelfen.